Der Jaguar Club in der Herforder Scala (4)

 

 
4. Die Scala als Experimentierfeld für Jugendkultur

In der Tat war der Jaguar Club die erste Adresse für Jugendliche. Die Jugendlichen im Jaguar Club definierten sich über die dort gespielte Musik, die authentisch von den Live-Bands vorgetragen wurde. Über die Musik entwickelten sie eine Identität, die sich in ihrer Gesamtheit zu einer neuen Jugendkultur herauskristallisierte. Musik begann, anders als für die Elterngeneration, eine existentielle Bedeutung zu erlangen. Musik war neben anderen Kriterien wie Haartracht, Kleidung, Umgangsformen wichtigstes Abgrenzungskriterium zur Erwachsenenwelt. Hierfür hat der Jaguar Club eine wichtige Ebene bereit gestellt.

Der Jaguar Club in der Scala war einer dieser wenigen Orte oder Räume, in denen Jugendliche Erfahrungen sammeln, in denen sie eine gemeinsame Geschichte und Sprache erleben und gestalten, in denen sie Halt finden und sich auf ihre Erfahrungen verlassen konnten. In diesen Räumen wurden in der permanenten Auseinandersetzung mit der älteren Generation, den Eltern, Lehrern und Vorgesetzten die Stilmittel der Jugendkultur dieser Zeit verfeinert. Haare, Kleidung, Habitus, Gestik, Mimik, Musik, Sexualität u.a. wurden Experimentierfeld, Probierbewegung zu einer eigenständigen Lebenswelt. An solchen Orten rückten die Jugendlichen in den Mittelpunkt des Geschehens. Hier wurden sie ernstgenommen. Und je weiter sich diese eigene Lebenswelt entwickelte, desto enger, einschränkender, absurder wurde die Welt der Eltern und anderen Erwachsenen in Schule, Betrieben u.a. empfunden.

Die Jugendlichen konnten die "Kontrollen zu ihrem Schutz", wie die Aktionen des Jugendamtes ja vom Gesetz her gesehen wurden, nicht begreifen, da sie einfach nur Musik hören und tanzen wollten. Und alles, was diesen Wünschen entgegen stand, wurde natürlich kritisiert oder umgangen. Mit der Erwachsenenkultur musste man sich auseinander setzen. Auch die ironische Auseinandersetzung gehörte dazu. Die später für die Musik der Rolling Stones, das gilt aber für die gesamte Musikszene der damaligen Zeit, ausgestreckte rote Zunge war dafür ein Symbol. "Ich mache sowieso was ich will." "Ihr könnt mich mal". Die Jugendlichen hatten die diffuse Vorstellung von einem Leben ohne Konventionen, frei und selbstbestimmt.

Mode und äußeres Gestalten waren wichtige Repräsentationsmittel der Jugendlichen. Auch ihre Bewegungen beim Tanzen, ihre Tanzstile, die der jeweiligen Musik angepasst wurden, drückten diese Selbstdarstellung besonders deutlich aus. Sie alle stellten teils bewusst, teils unbewusst eine Kritik der herrschenden gesellschaftlichen Normen und Ordnungskategorien dar. Mode, auch wenn sie gemacht und kommerziell ausgeschlachtet wird, ist immer auch Ausdrucksebene, die sich von anderen Ausdrucksebenen abgrenzt. Es gibt keine Mode, die nicht gemacht oder aufgegriffen wird. Auch die Konzerte in der Scala waren von Erwachsenen initiierte Veranstaltungen. Mit ihnen wurde "Geld gemacht". Auch die Scala war ein kommerzielles Unternehmen, für das die Jugendlichen bezahlen mussten.

Anders verhielt es sich mit der von Jugendlichen selbst initiierten Kultur, den selbstverwalteten Formen wie dem Jazzclub in der Komturstraße, dem Fla und dem politischen Club aktion 49 in der Eimterstraße 49.


5. Jugendkultur und Kulturindustrie

Die Beatmusik stand in der 60er Jahren für jugendliche Gegenkultur. Die Jugendlichen führten einen Kampf um Möglichkeiten der Selbstfindung und Selbstdarstellung, erkämpften sich - auch mit Hilfe einiger Erwachsener - Räume, in denen sie sich verwirklichen, in denen sie so etwas wie eine eigene Identität "basteln" konnten mit allen dazu gehörenden Ritualen, Symbolen, Praktiken, um dem Alltag der Erwachsenen für die Momente des Zusammenseins zu entfliehen. Die Beatmusik bildete hierfür ein Forum - über sie konnte man sich abgrenzen; sie war etwas, was den Jugendlichen (scheinbar) allein gehörte.

Gab es in der zweiten Hälfte der 60er Jahre nur eine einzige Musiksendung im Fernsehen, so quellen heute aus zahlreichen Fernsehsendern rund um die Uhr Musikclips und mit Werbung transportierte Popmusik. Es gibt keinen Kampf mehr um Haarlänge und Kleidung, im besten Fall noch um den Preis der Markenbekleidung. Popmusik ist zu einem gigantischen Markt mit mehreren Millionen Arbeitsplätzen, zu einer der wichtigsten Säulen der Industriegesellschaften geworden. Dieser Markt hat den Beat und alles, was danach noch kommen sollte, aufgesogen: Punk, Reggae, Heavy Metal, HipHop, Rap, House, Techno, egal, um welche Unterspielarten der jeweiligen Musikrichtungen es sich dabei handelte.

Daher ist es für Jugendliche heute besonders schwierig, eine eigene Jugendkultur, eigene Lebensstile und Ausdrucksformen auch in der Musik zu entwickeln. Popkultur ist wahrscheinlich aus diesem Grunde in eine kaum mehr durchschaubare Vielzahl von Stilrichtungen zerfallen. Die Subversion liegt in den nur noch von den jeweiligen Anhängern einer der zahlreichen Stilrichtungen zu verstehenden Nuancen. Aber je schwieriger es für Jugendliche ist, sich Freiräume zu erobern, je weniger Möglichkeiten es dazu gibt, desto mehr Gedanken muss sich eine Gesellschaft über die Gefahren machen, die von den nicht bereit gestellten Räumen für Jugendliche ausgehen. Aktiv von Jugendlichen gestaltete Räume sind die einzigen Möglichkeiten zu authentischen Selbsterfahrungen. Diese Möglichkeiten werden heute vor allem durch die Freizeitindustrie eingeschränkt.

Schon in den 50er und 60er Jahren ist die Jugend als konsumfähiges Objekt entdeckt worden. Alle überschreitenden Momente und systemsprengenden Aspekte, alle Provokationen und subversiven Strategien, alles, was sich im jugendlichen Milieu entwickelt, wird in einem immer schnelleren Rhythmus von dieser Kulturindustrie enteignet, vereinnahmt und den Jugendlichen auf dem Markt wieder gegen Geld angeboten - unter Preisgabe der Entwicklung und des Auslebens eigener Lebensstile und Erfahrungen. Die Räume für diese Möglichkeiten werden in der Zeit des weltweiten Netzes immer enger.

Andererseits hat sich die Form der Abgrenzung geändert. Brauchte man früher nur lange Haare und eine E-Gitarre, so ist die Abgrenzung gegenüber der Erwachsenenwelt heute weitaus subtiler geworden, aber nicht weniger effektiv. Heute bedient man sich der vorhandenen Muster, zerlegt sie und schafft sie immer wieder neu. Und damit ist ein Teil der Musikszene deutlich politischer und reflektierter als es die Beatmusik damals war. Musiker wie Jan Delay oder die Sound Systems, die gegen Rechts auflegen, das politische Reggae Revival mit Capleton, Anthony B. oder Sizzla, der multikulturelle Sound von Manu Chao - das sind nur einige Beispiele, die zeigen, wie politisch Popmusik auch heute sein kann.

Kulturpessimismus ist also nicht angesagt, im Gegenteil. Die Räume mögen enger geworden sein, aber sie sind da. Gerade das Internet schafft auch neue Räume, schafft Kommunikationsstrukturen, die es früher nicht gab. Ob es die florierenden Tape Exchanges sind oder die Plattformen für neue Bands, die früher nie über ihr Viertel hinausgekommen wären: Musik besitzt nach wie vor ein Potenzial der Rebellion.

Letztlich war auch die Scala nichts anderes als Style - ein Stil, der nur deshalb politisch wurde, weil er auf die verkrusteten Strukturen der Nachkriegsära traf. Die meisten Besucher der Scala waren ebenso wenig politisch engagiert wie heute die meisten Konzertbesucher. Aber der Jaguar Club drückte wie nur wenige andere Orte ein Lebensgefühl einer Generation aus, die sich im Aufbruch zu neuen Ufern befand.

Autor: Peter Biresch, unter Mitarbeit von Gerd Ruebenstrunk



 

Die Scala kurz vor dem Abriss

Im Tamburin

Spencer Davis

Im Tamburin