Räume/Orte der Jugendlichen 1965 bis 1975

 

 

 
Jedes Ereignis hat einen Ort. Entweder einen realen oder einen imaginären. Damit hat auch jeder Ort eine Geschichte. Je nach Zeitpunkt gibt es am selben Ort andere Ereignisse, andere Geschichten, andere Momentaufnahmen.

Räume/Orte wurden von den Jugendlichen nicht mehr als verordnete, vorgefertigte akzeptiert; sie wurden als vorläufige Räume/Orte/Wege wahr genommen, die immer neu und immer anders angeeignet werden können. Die Wege sollten nicht starr sein, sondern geschmeidig sich der Suche anpassen. Sie sollten gleitend, unfertig, wandlungsfähig sein, nur dadurch bleiben sie lebendig, wie ein Puzzle, das immer wieder neue Bilder ergibt.

Räume gehen unmerklich ineinander über, fransen aus wie in einem Diskurs über die Zeit 65 - 75, der auch kein einheitliches Bild abgeben kann. Alles war in Bewegung und man musste diese Bewegungen lesen, um ihnen folgen zu können.

Letztlich sind die Wege, Spuren Gegenmodelle zu den Wegen der Erwachsenen, Abweichungen, neue Grenzziehungen. Die Wege dieses Netzes sind immer aktualisiert und erweitert worden. Wie im zentralen Nervensystem gab es für die Hauptwege feste Stränge und von dort mäandrierende Stichwege, Verzweigungen, die in der Regel zu Fuß gegangen wurden. Fahrräder waren in dieser Zeit noch nicht so häufig in Gebrauch. Ständig wurden die Pfade aufgefrischt, energetisiert und neue Knotenpunkte geknüpft. Man traf sich an den Knotenpunkten, auf den Wegen, die zu Wegen des Austausches wurden, zu Momenten der Wortwechsel und Gespräche.

Wege sind Kommunikationslinien. An ihren Haupt- und Knotenpunkten befinden sich die Kulturmarken, Orientierungspunkte für die Jugendlichen. Jede Generation von Jugendlichen erschließt sich solche Wege und Orientierungspunkte auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Die Jugendlichen der Jahre 1965 bis 1975 entwickelten zunächst ungeplant die Vernetzung von Räumen und Orten, Kommunikationsformen und Lebensbereiche: Wohnen, politische Arbeit, Freizeit. Die "Verkehrswege", die sie schufen, entsprachen diesen Vernetzungsbedürfnissen. Die Jugendlichen arrangierten mit hoher Kreativität und Geschwindigkeit neue Environments, machten die Straße zur Plattform, nutzten Räume/Orte, die von den Erwachsenen nicht genutzt wurden und organisierten in ihnen etwas Anderes/Neues. Die Sprachräume änderten sich, die Formen des Umgangs, die Kleidung, die Musik, die Sexualität, die Fortbewegung. Es entstand die Kunst des spontanen Arrangements, des flexiblen Organisierens, des Installieren von Räumen mit neuen Ideen, des Besetzens und Veränderns alter Räume/Orte mit dem Geist des Aufbruchs.

Räume haben mit Sozialstrukturen zu tun, mit Sprachgemeinschaften, mit Geschichte. Zu diesen Räumen gibt es Gegenräume (Focault) für soziale Beziehungen. Die 68er Bewegung hatte eine neue Lesbarkeit der vorhandenen Räume entwickelt, die sich gegen die erwähnten Veränderungen des gesellschaftlichen Raumes stemmte und andere Richtungen für möglich hielt. Strukturen, Klassenzimmer, Schulhof, Krankenzimmer, öffentliche Plätze, Veranstaltungsräume - überall entspann sich ein Kampf gegen die Besetzung der Räume durch die bisherigen "Besatzer".

Räume sind nicht statisch. Bewegung verändert sie, beeinflusst ihre Merkmale und Machtkonstellationen. Räume sind Orte, die Halt geben, die man auch verlassen kann. Man kann ihre Fläche verändern. Räume sind Orte der Erfahrung, des Wissens, wie es Marcel Broodthaers sah.

In Räumen bewegen sich die Körper. Durch die Exponierung der Agierenden in der Bewegung gelangen neue Formen der Körperlichkeit in die Öffentlichkeit. Kleidung, Habitus, Gestik, Mimik bekommen ein neues "Gesicht". Das Subjekt rückt in den Mittelpunkt des Geschehens. Jede Demonstration ist Akt der Inanspruchnahme der Räume mit Hilfe der neuen körperlichen Ausdrucksformen: Gehen, Laufen, Sich-Unterhaken, Rhythmuswechsel, Intonieren der Sprüche u.a.

Solche Räume zeigen auch, wie die Jugendlichen sich die Stadt Herford aneigneten, sie zu "Ihrer" Stadt machten. Da gab es Treffpunkte wie den Eingangsbereich von Klingenthal, wo man sich traf, weil es dort durch das Türgebläse warm war, herumstand, wieder ging, klatschte, sich verabredete undsoweiter. Da gab es die Tchibo-Filiale im Gehrenberg, der regelmäßige Treffpunkt der mehr politisch aktiven Jugendlichen. Da gab es das traditionsreiche Gasthaus Föge am Alten Markt, wo sich die Jugendlichen ihre Tische gegen die Honoratioren erkämpfte. Da gab es die Scala, den Schützenhof, den Jazzclub, das JZ Löhrstraße, den Neuen Markt als Treffpunkt im Sommer, das Fla-Fla, das Tamburin, die Buchhandlung Jackmann, die Mönchsklause, Hähnchen Schmidt, die Kirmes, das Freibad und viele andere Orte und Räume, die von den jugendlichen Besuchern angenommen oder umdefiniert wurden.

Viele dieser Orte existieren heute nicht mehr, manche haben ihr Gesicht verändert. Aber wie sich die Zeiten ändern, so ändern sich auch die Orte, die die jeweilige Generation zu den ihren macht. Und wenn wir erwachsenen sie nicht sehen, so heißt das nicht, dass es sie nicht gibt.

 

Autor: Peter Biresch, unter Mitarbeit von Gerd Ruebenstrunk