Aufbrüche - Welche Rolle spielte die Studenten- und Schülerbewegung der 60er- und 70er-Jahre?

Vortrag zur Einführung in die Herforder Ausstellung "Aber unsere Träume nicht" von Klaus Hurrelmann, Professor an der Universität Bielefeld

 

 

Sie haben diese Ausstellung unter das Motto "Aufbrüche" gestellt. Was sind Aufbrüche? Sie sind das Aufstoßen von verkrusteten Schalen mit viel Druck von innen, mit großen Unbehagen an der Enge, einem unaufhaltsamen Drängen gegen die Einschnürung. Der Aufbruch entsteht, weil der Raum im Inneren nicht ausreicht. Die Schale muss gebrochen werden, weil Spielraum und Freiheit gewonnen werden sollen. Die Bewegung will heraus, sie hat kein festes Ziel, sie will nur Freiraum und Freiheit. In welcher Gestalt die Bewegung sich weiterentwickelt, das ist noch unklar, teilweise auch unberechenbar. Die Akteure der Bewegung wissen es oft selbst nicht, sie werden von dem Druck des Aufbruches getrieben und treiben den Druck zugleich ihrerseits weiter.

Die Ursprünge der Studenten- und Schülerbewegung

Eine solche unaufhaltsame soziale Bewegung haben viele von uns in den 1960er- und 1970er-Jahren, also vor mehr als einer Generation, selbst erlebt. Ich gehörte zu den Zeitzeugen. Als 21-jähriger Student, stolz mit einem Fulbright-Stipendium in Tasche, zog ich 1965 hoch motiviert zum Studium der Sozialwissenschaften in die USA. Man hatte mich gut beraten, ich sollte einen der besten Studienplätze in den USA auswählen, es kamen Princeton und Minnesota im Osten sowie Stanford und Berkeley im Westen des Landes in Frage. Ich entschied mich für Berkeley, weil mich das kalifornische Umfeld interessierte. Wir wurden gut vorbereitet, in der amerikanischen Botschaft wurden wir in das politische System der Vereinigten Staaten eingeführt. Wir waren offen für die neuen Eindrücke, die auf uns zukommen würden. Wir hatten die Bleistifte gespitzt, denn man hatte uns gesagt, wie intensiv an den amerikanischen Universitäten gearbeitet wird.

Ich kam im Frühjahr 1965 mit vier weiteren Studierenden in Berkeley an. Tatsächlich wurde hart gearbeitet, bis in die Nacht. Wir lernten viel. Aber wir waren wir auch darauf aufmerksam geworden, dass dieses ein Campus mit einer kraftvollen politischen Basisbewegung war. In Berkeley war das Zentrum der amerikanischen studentischen Unruhen. Hier wurden die landesweiten Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg der amerikanischen Armee koordiniert, hier liefen viele Kampagnen gegen die Benachteiligung der amerikanischen schwarzen Bevölkerung.

Wir kamen auf einen Campus, auf dem harte Arbeit und zugleich auch harte politische Demonstrationen zu erleben waren. Die "Free Speech Movement", angeführt von agilen Studentenführern, sorgte für turbulente politische Versammlungen auf dem zentralen Platz des Campus. Hier traten alle politischen Größen des Landes auf, von Martin Luther King über Präsident Johnson bis zu den führenden Generalen der Armee, aber auch den Anführern der amerikanischen kommunistischen und amerikanischen nationalsozialistischen Parteien. Wir nahmen an den größten Antikriegsdemonstrationen teil, die es jemals in der Geschichte eines westlichen Landes gegeben hatte. Es war ein Jahr des Aufbegehrens, hier konnte ich "Aufbrüche" hautnah erleben, mit einer politischen und kulturellen Intensität, wie ich sie mir zuvor nicht vorgestellt hatte.

Auf der Rückreise nach Deutschland sinnierten wir, warum es den Amerikanern möglich war, eine solche aufgewühlte und emanzipationsstrebende Stimmung an den Universitäten zu haben, von der wir in Deutschland nach unserem Eindruck weit entfernt waren. Wir waren uns einig: Es wird noch Jahre dauern, bis eine solche Politisierung mit der Befreiung von dem politischen Mehltau der Nachkriegsjahre in Deutschland bei uns um sich greifen würde. Das war im September 1966.

Was ist eigentlich eine Jugendkultur?

Zurück in Deutschland setzte ich mein Studium an der Universität in Münster fort. Eine Arbeitsuniversität, wie sie bei Studierenden und Dozenten hieß, denn hier bestanden beste Arbeitsmöglichkeiten, um Diplom- und Abschlussarbeiten fertig zu bekommen. Auch hier wurde hart gearbeitet. Mein Interesse an jugendpolitischen Themen war nun geweckt, ich kümmerte mich intensiv um die Jugendforschung. Die kannte so etwas wie eine "Jugendbewegung" in Deutschland aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Seit dieser Zeit ist für unseren Kulturraum das "Jugendalter" als eine eigene, selbstbestimmte Lebensphase mit einer spezifischen und unverwechselbaren Lebensweise bekannt. Jugendliche schaffen sich in ihrer Lebensphase, die zwischen der behüteten Kindheit und der selbstständigen Erwachsenenzeit liegt, eigene Umgangsformen, Lebensstile und Ausdrucksformen, sie bilden damit einen sozialen Kokon um sich, um ihren Weg in die Gesellschaft ungehindert einschlagen zu können. "Jugendkulturen" gelten seitdem als Inbegriff einer solchen spezifischen und eigenwilligen Ausdrucksform - sie erleichtern und ermöglichen den Übergang von der geschützten Welt der Herkunftsfamilie in die universelle Erwachsenenwelt, und sie bringen sozialen Wandel in die gesamte Gesellschaft. Sie sind Vorboten für kulturelle und intellektuelle Umbrüche und Aufbrüche.

Jugendkulturen, so die soziologische und pädagogische Forschung, können sich von Zeit zu Zeit deutlich gegen die Erwachsenenkultur stellen. Es kann zu erheblichen Spannungen kommen, weil die junge Generation sich von der etablierten Generation absetzen muss, um ihren eigenen Weg in die Gesellschaft zu finden. Diese Absetzung und Abgrenzung kann zuweilen scharfe und sogar aggressive Formen annehmen. Nicht nur durch Kleidung und Frisur, sondern auch die sozialen Umgangsformen und die Wert- und Normorientierung kann die junge Generation sich gegen die etablierte Generation der Eltern und Großeltern auflehnen. Jetzt kommt es zur Jugendkultur als "Subkultur", mit der Absicht einer feindlichen Ablehnung der "Hauptkultur" der dominierenden Generation in der Gesellschaft.

Ehe ich so richtig mit meiner Diplomarbeit zu diesem Thema fertig war, brach eine "Jugendbewegung" als "Studentenbewegung" auch an meinem beschaulichen Studienort in Münster aus. Gerade hatte ich meine Diplomarbeit abgegeben und im März 1968 mein Diplomexamen gemacht, da wurde zu Beginn des Sommersemesters 1968 der Studienbetrieb massiv gestört. Dreißig wild gestikulierende Aktivisten drangen in die Hörsäle ein und übernahmen die Lehrveranstaltungen. Zur Senatssitzung die damals nur aus Professoren bestand, erschienen sie zu 200 Leuten. Als Fachschaftsvertreter hatten wir zuvor in mehrmonatigen Verhandlungen durchgesetzt, dass zwei von uns mit beratender Stimme an den Senatssitzungen teilnehmen konnten. Die Vertreter der Studentenbewegung forderten nun fünfzig Prozent der Sitze, natürlich mit Stimme. In Münster ging alles drunter und drüber, angeführt von einem Studierenden, der zwei Semester unter mir war und im Studium nicht aufgefallen war - es war der Sohn des Polizeipräsidenten der Stadt Münster, der sich ganz offensichtlich mit seinen gegen die Autorität der Professoren gerichteten Anforderungen auch von der Autorität seines Vaters befreite.

Was ist von der Aufbruchbewegung geblieben?

So war ich also zum zweiten Mal Zeitzeuge des politischen Aufbruchs der Studentenbewegung geworden, dieses Mal in Deutschland. Es spielte sich alles sehr viel eruptiver und unkontrollierter als in Berkeley ab. Es war zu spüren, das in Deutschland eine politische Streitkultur fehlte, die Konflikte mit der Autorität wurden viel massiver und unerbittlicher ausgetragen als in Kalifornien. Es fehlten weitgehend spielerische Elemente und Komponenten, alles war todernst und von tiefsitzender Aggression gekennzeichnet. Der Aufbruch hatte eine noch größere Wucht, er war erheblich ungeduldiger als an der Universität in Berkeley.

Die Spuren und die Folgen der Studentenbewegung, die Schritt um Schritt auch eine Schülerinnen- und Schülerbewegung wurde, oft auch eine Lehrlingsbewegung, machten sich in Deutschland schnell bemerkbar. Im Verlaufe der 1960er-Jahre kam es zu deutlichen Verschiebungen im politischen Gewicht der Parteien, zum ersten Mal waren die Sozialdemokraten an einer Bundesregierung beteiligt und übernahmen sie später in führender Position. Der emanzipatorische Aufbruch zog sich durch die ganze Gesellschaft, er war nicht nur in den Universitäten, Schulen und Ausbildungsstätten zu spüren, sondern ergriff in der Tiefenstruktur auch alle anderen gesellschaftlichen Institutionen. Nicht zuletzt war das daran abzulesen, dass die freiheitsorientierten Wertsetzungen, die Orientierung an Selbstbestimmung, Kreativität und Lebensgenuss, der "Postmaterialismus", der sich gegen die deutschen Sekundärtugenden von Ordnung und Gehorsam richtete, auch in der erwachsenen Bevölkerung um sich griffen.

Ich war Mitte der 1970er-Jahre zum Professor ernannt worden und hatte nun Gelegenheit, mich engagiert auch als Forscher um die Entwicklung im Jugendalter zu kümmern. Die Jugendforschung wurde, wahrscheinlich durch meine Zeitzeugenrolle mit beeinflusst, zu einem meiner Schwerpunktgebiete. Zuletzt hatte ich die Gelegenheit, die renommierte Shell-Jugendstudie zu leiten. Die 14. Studie dieser Art haben wir erst vor wenigen Wochen vorgelegt. Und auch hier zeigten sich noch die Spuren der "postmaterialistischen Revolution", die von der Bewegung der 1960er- und 1970er-Jahre ausgingen: Die heutigen Jugendlichen haben Eltern, deren politisches und soziales Weltbild und deren Wertorientierungen noch direkt von der Studenten- und Schülerbewegung geprägt wurden. Jugendliche heute haben es (noch) nicht (wieder) nötig, sich von dieser Mentalität absetzen. Oft fragt man sich, ob sie überhaupt noch Spielräume haben, bei bereits emanzipierten und liberalen Eltern mit einem modernen und flexiblen Erziehungs- und Wertekonzept sich gegen die etablierte Generation aufzulehnen.

Die Antwort der heutigen Generation, mit der sie sich von den Eltern vorsichtig absetzt und zugleich auf eine eigene Rolle in der Gesellschaft vorbereitet, ist eine pragmatische. Wir finden in der 14. Shell-Jugendstudie 2002 eine unbefangene und erfrischende Kombination aus den Werten der Eltern, also Kreativität, Unabhängigkeit, Lebensgenuss und Lebensstandard, mit den Werten der Großeltern vor der Studentenbewegung, also Fleiß, Ehrgeiz, Machtstreben, Einfluss und Sicherheit. Diese junge Generation will nicht mehr aussteigen, sondern will aufsteigen, sie konzentriert sich dabei auf ihre eigenen Kräfte und nimmt dafür zweckorientierte Nutzenkalkulationen vor. Ein politisches Engagement ist denkbar, aber es muss mit den eigenen Bedürfnissen in Einklang stehen, und es muss etwas bringen. Das ist also eine ganz andere Mentalität als die der Eltern aus der so genannten 68er-Bewegung. Es ist die eigene Antwort der heute Jungen auf die Herausforderungen ihrer Lebenswelt.

Die Herforder Ausstellung

Die heute zu eröffnende Ausstellung hat die faszinierende Perspektive eingenommen, die Studenten- und Schülerbewegung in einer kleinen Stadt ohne eine Universität zu rekonstruieren. In Herford herrschte eine völlig andere Ausgangssituation als in Münster, aber viele der Herforder Jugendlichen waren Studierende und konnten die Botschaften von den Studentenbewegung in die Region tragen. Die Aufbruchstimmung drang deshalb, wie die Ausstellung sehr anschaulich zeigt, sehr schnell auch in die Schulen und Jugendtreffpunkte.

Auch die Themen waren die gleichen, die Suche nach Räumen für die eigene Entfaltung, das Verlangen nach einer eigenen Musik als Ausdruck des persönlichen Lebensstils, der ständige Kampf mit den Behörden um Freiräume für Treffen und Aktivitäten, die politischen Proteste gegen die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg der Amerikaner, die Auflehnung gegen die Enge und die Selbstbeweihräucherung der Nachkriegszeit in Deutschland, der Protest gegen die Verdrängung der nationalsozialistischen Gräueltaten.

In verschiedenen Facetten wird die Jugendkultur der Stadt Herford von 1965 bis 1975 in dieser Ausstellung dokumentiert. Es sind keine neutralen Dokumente, die hier gezeigt werden, sondern es sind ganz persönliche Reminiszenzen, die von den damaligen Akteuren der Protest- und Freiheitsbewegung beigesteuert wurden. Das macht die Ausstellung so authentisch und lebendig.

Der Höhepunkt der Herforder "Jugendbewegung" war wohl die über dreiwöchige erfolgreiche Demonstration gegen die Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Busverkehr. Die Aktion "Roter Punkt" brachte Herford in die Frontreihe der politischen Bewegungen in Deutschland. So etwas hatte es bisher nur in Großstädten und in Universitätsstädten gegeben. In Herford kam es nun zu einer politischen Konstellation, einer Koalition von verschiedenen Organisationen und Personen, die die Aufbruchstimmung in die gesamte Bevölkerung hinein trug.

So kann es gehen mit Aufbruchbewegungen, wenn die Schale gesprengt wird. Hoffen wir, dass von dieser Freiheitsbewegung hier und da noch eine Spur zu erleben ist, wenn in Herford politische Entscheidungen zu treffen sind. Die Ausstellung "Aber unsere Träume nicht" kann dabei als ein nachwirkender Impuls wirken.